Die Bedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung wandeln sich durch die kommerziellen und sicherheitspolitischen Datenerhebungs- und Datenauswertungspraktiken aktuell grundlegend. Datenbasierte Vorhersagen über die Entwicklung des Individuums und die Gesellschaft insgesamt befördern Optimierungs- und Diskriminierungsprozesse, die eine auf Vielfalt ausgerichtete Entfaltung des Individuums behindern. Der Kultur und Gesellschaft droht eine Homogenisierung, die den Bildungsgedanken zunehmend infrage stellt.
Die Herausforderungen, die mit der zunehmenden Abbildung und Steuerung der sozialen Welt durch digitale Daten einhergehen, sind nicht allein von technologischer, rechtlicher und politischer Seite zu lösen. Der Medienpädagogik kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Mit ihrem Fokus auf eine umfassende Bildung und die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen leistet sie einen maßgeblichen Beitrag dazu, dass ein sozial verantwortliches, kulturell reichhaltiges und demokratisches Leben in einer datafizierten Welt möglich ist. Die Frage danach, welche Kompetenzen und Rahmenbedingungen nötig sind, um in einer medial geprägten und datafizierten Welt eine Persönlichkeit entwickeln, die Gesellschaft mitgestalten und ihr auch widerständig begegnen zu können, betrifft die Medienpädagogik unmittelbar. Mit ihrem Aufgabenfeld – der Förderung von Medienbildung – setzt sie sich für die Entwicklung von Individualität und eine selbstbewusste Teilhabe am Gemeinwesen und dessen Kultur ein. Da Bildung entlang der Bildungskette und über den gesamten Lebenslauf ohne Medien nicht mehr möglich ist („Keine Bildung ohne Medien!“), müssen alle Bildungsbereiche in einer kritisch-konstruktiven Auseinandersetzung mit den aktuellen Veränderungen gestärkt werden. Denn gerade die politische Bildung, kulturelle Bildung und Ethik tragen entscheidend dazu bei, dass sich Individuen selbstbestimmt und reflektiert in einer digitalen Gesellschaft entfalten können.
Bildung ist nicht „digital“, sondern dient weiterhin der reflexiven Verortung der Menschen in der Welt. Sie ist nicht zu reduzieren auf die Vermittlung von „digitalen Skills“ zur effektiven Verarbeitung von Informationen oder optimalen Verortung im System, sondern Bildung ermöglicht, sich mit Neugier auf Unbekanntes einzulassen, produktiv und kreativ mit Unbestimmtheit umzugehen, Verfehlungen für sich produktiv zu wenden und auch Widerstand zu entwickeln. Bildungsprozesse lassen sich nicht steuern und kontrollieren, sie erfordern Kreativität im Umgang mit neuen gesellschaftlichen Herausforderungen.
Vonseiten medienpädagogischer Akteurinnen und Akteuren sowie Institutionen wird seit vielen Jahren konsequent die dauerhafte und nachhaltige Verankerung von Medienbildung in allen Bildungsinstitutionen gefordert (vgl. KBoM und das Medienpädagogische Manifest, Medienkompetenzbericht). Die Notwendigkeit dieser Forderung zeigt sich mehr denn je angesichts der oben genannten negativen Folgen der Datafizierung für die Persönlichkeitsentfaltung, für die kulturelle und politische Meinungsvielfalt wie auch für das demokratische Miteinander. Die Beschäftigung mit Akteurinnen und Akteuren, Zielen und Verfahren der Nutzung digitaler Daten, des Einsatzes von Algorithmen und ihren politischen Implikationen ist eine notwendige Voraussetzung für die Partizipation an einem gesamtgesellschaftlichen Diskurs über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den Nutzen von Big Data (Analytics).
Zugleich ist klar, dass eine alleinige Fokussierung auf das handelnde Subjekt einer Verantwortungsverschiebung von Organisations- und Regulierungsfragen auf den Einzelnen gleichkäme. Bildungsanstrengungen in der digitalen Gesellschaft sind nur erfolgreich, wenn auch geeignete politische Rahmenbedingungen vorhanden sind bzw. gesetzt werden; beispielsweise ist eine digitale Selbstverteidigung nur im Zusammenhang mit regulatorischen Maßnahmen und Qualitätssicherungen von Software (z.B. Privacy by Design) erfolgreich. Die Medienpädagogik ist auch in diese Prozesse zukünftig stärker einzubinden.
Die Sicherstellung von Medienbildung setzt weiterhin eine stärkere Einbindung der Medienpädagogik in digitalpolitische Präsentations- und Entscheidungsplattformen (Digitale Agenda, IT-Gipfel u.a.m.) voraus. Die Berücksichtigung von Fragen zur Ermöglichung von Medienbildung ist grundlegend für den Ausbau und Fortbestand der demokratischen Kultur und Gesellschaft.
Die Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur e.V. (GMK) und die Initiative „Keine Bildung ohne Medien!“ (KBoM!) fordern angesichts der Datafizierung unserer Gesellschaft die Politik nachdrücklich auf,
- Medienbildung in allen Bildungsbereichen als verbindliches Fach zu integrieren,
- ein umfassendes, auf Bildung und Persönlichkeitsentwicklung ausgerichtetes Verständnis von Medienbildung zu fördern,
- die Expertise der Medienpädagogik bei regulatorischen Planungen und Maßnahmen einzubeziehen,
- bei der Förderung von Technologieentwicklung einen interdisziplinären Austausch mit der Medienpädagogik anzulegen sowie
- Medienbildung bei der Diskussion, Planung und Gestaltung von Zukunftskonzepten der datafizierten Gesellschaft zu berücksichtigen.
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